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Buchrezension: Verschieden Sein – Nachdenken über Geschlecht und Differenz

Cover Verschieden Sein, Ulrike Helmer VerlagAnlässlich des 60. Geburtstags von Andrea Maihofer, Professorin für Geschlechterforschung und Leiterin des Zentrums Gender Studies an der Universität Basel, teilen die 24 Autorinnen und zwei Autoren dieses Sammelbands ihre Perspektive auf Geschlecht und Differenz unter dem Motto „Ohne Angst verschieden sein“. Ihre WegbegleiterInnen in der Frauen- und Geschlechterforschung durchdringen das manchmal widersprüchlich scheinende Spannungsverhältnis zwischen Gleichheit und Differenz. Der herrschende universelle Bezug auf Gleichheit entzieht die Idee der Gleichheit geradezu einer Kritik. Dem stellt Maihofer die Idee einer positiven, nicht hierarchisierenden Anerkennung der Geschlechterdifferenz gegenüber, die zu einer Erweiterung und Reformierung des bestehenden Gleichheitsverständnisses beitragen könnte. „Wie kann es gelingen, in der Verschiedenheit als gleichberechtigt anerkannt zu werden“ – so lautet wohl eine der wichtigsten Leitfragen ihres wissenschaftlichen Lebens. Die Formel „Differenz in Gleichheit … und Gleichheit in Differenz“ bringt es für sie auf den Punkt.

Maihofer selbst markiert ihre Position mit Attributen wie „schwerhörig“ und „bisexuell“ und macht so nachvollziehbar, wie diese Eigenschaften auch ihr wissenschaftliches Denken und Arbeiten mitprägen.

Antke Engel beschreibt Trans-Androgynie als Paradox. Queere Bewegungen zielen auf individuelle Freiheitsgewinne, ihnen droht aber auch eine Vereinnahmung durch ein neoliberales diversity management, wenn nicht sogar eigene Freiheitsgewinne die Ausschlüsse anderer verschärfen können.

Isabell Lorey verdeutlicht auf Basis von Maihofers Aussage, dass Gleichheit Ähnlichkeit verlange, wie die Logik der Gleichheit auch zu einer diskriminierenden Gleichheit, zu einem Normalitätsdruck führen kann. Für sie ist das Spannungsverhältnis von Gleichheit und Differenz denn auch konstitutiv für liberale, demokratische Gesellschaften.

Elisabeth Conradi wünscht sich, dass die Strategie der Gleichheit mit der Vorstellung von der Einzigartigkeit und Verschiedenheit des Menschen einhergeht.

Annelis Kaiser führt aktuelle Erkenntnisse der Hirnforschung und der Neurowissenschaften in den Geschlechterdiskurs ein.

Kerstin Palm deutet Möglichkeiten zur Versöhnung von Sozialwissenschaften und Biologie im Geschlechterdiskurs an – jenseits von affirmativen oder naturalistischen Zuschreibungen.

Uta Schirmer beschreibt trans*-queere Existenzweisen als marginalisierte oder minorisierte gelebte Denk-, Gefühls- und Körperpraxen und erläutert dann Unterschiede zwischen Bühne und Alltag in der deutschen Drag-King-Szene.

Jana Häberlein erläutert am Beispiel einer Basler Fasnachtslaterne mit dem Motto „Heil Dir Helvetia – zieh jetzt e Burka aa“ und dem Streit um die Badekleidung muslimischer Frauen in der Badeanstalt Eglisee, dass zwar kein Mann Einlass ins Frauenbad fordert, aber sehr wohl den Blick unter das Kopftuch werfen möchte.

Christa Binswanger überzeugt mit der ebenso humorvollen wie ernsten Aussage: „Auch werden heute in den meisten theoretischen Strömungen des Feminismus und der Gender Studies ein befriedigendes Sexualleben und Heterosexualität nicht mehr als grundsätzlich unvereinbar betrachtet.“

Karin Schwiter hebt die gerade bei jungen Frauen zunehmend verbreitete Idee der individuellen Einzigartigkeit und die damit einhergehende Betonung der Verschiedenartigkeit von Frauen hervor, verweist aber auch auf die weiterhin vorherrschenden traditionellen Rollenmodelle, die als Referenzfolie im Hintergrund wirksam bleiben.

Brigitte Röder setzt sich mit der Archaisierung des bürgerlichen Geschlechter- und Familienmodells über die Urgeschichte auseinander und macht eine Naturalisierung des bürgerlichen Geschlechtsmodells aus, das vermeintlich menschlich, natürlich und ursprünglich daherkommt und sich immer wieder selbst reproduziert. Dabei spielen geschlechter- und familiengeschichtliche Forschungen, die derartige vorschnelle Annahmen stützen oder widerlegen könnten, eine völlig untergeordnete Rolle bei der Erforschung der schriftlosen Gesellschaften der Vergangenheit, die 99,9 % der Menschheitsgeschichte ausmachen. Und meist dienen dabei die normativen Konzepte der bürgerlichen Gesellschaft einfach als Wahrnehmungsmuster zur Interpretation der Urzeit.

Im erfrischenden Gespräch „Mutter werden. Befreiende Vielfalt?“ geht es u.a. um das Überstülpen einer einengenden heteronormativen Begehrensstruktur auf Kleinkinder, denen beispielsweise beim Kontakt zwischen einem Jungen und einem Mädchen plötzlich Flirtverhalten unterstellt wird, bei vergleichbaren gleichgeschlechtlichen Kontakten jedoch nicht.

Eveline Y. Nay verweist darauf, dass Regenbogenfamilien durch ihre Existenz und Wahrnehmung zu einer Entsexualisierung der Frage nach der Kinderentstehung beitragen, da auch bei ihnen – wie bei Heterosexuellen – diese Frage in den Intimbereich gehört.

Sushila Mesquita problematisiert eine der Kernstrategien der Gleichstellungspolitik, nämlich Gleiches gleich und Ungleiches ungleich zu behandeln. Dass Ungleiches ungleich behandelt werden müsse, mag eine Konsequenz des modernen Gleichheitsverständnisses sein, allerdings wird Verschiedenes eigentlich immer hierarchisierend unterschieden. Wann ist also Ungleichbehandlung sachgerecht und wie gelingt eine Gleichstellung, die Differenz anerkennt?

Das eher philosophisch gehaltene Schlusswort hat die Jubilarin selbst. Und sie kann stolz auf die Vielfalt der Erkenntnisse ihrer Mitstreiter_innen und Schüler_innen sein.

Ansgar Drücker

Dominique Grisard, Ulle Jäger, Tomke König (Hg.): Verschieden Sein – Nachdenken über Geschlecht und Differenz (Ulrike Helmer Verlag 2013)

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