phenomenelle

kulturelle

LITFEST homochrom

„Pariah“ – Coming out zwischen Afro-Punk und Poesie

Pariah

(Bild: Focus Features)

Die 17-jährige Alike steht unter Druck. Als Kind afro-amerikanischer Mittelschichtseltern wächst sie in Brooklyn auf und glänzt in der Schule mit poetischen Texten, die ihre kritische Lehrerin jedoch noch nicht zufriedenstellen. Alike fühlt sich unverstanden und ist genervt, denn ihr soziales Umfeld zwingt sie in Rollen, die für sie nicht stimmig sind. Wer will sie sein? Eine „Pariah“, eine Außenseiterin, über deren Anderssein sich die angepassten Schulkameradinnen lustig machen? Am Wochenende lässt sie sich halb interessiert, halb widerstrebend von ihrer maskulin inszenierten Freundin Laura in angesagte Clubs schleppen, in denen Frauen auf den Tischen strippen und heterosexuelle Verhaltensweisen kopieren. Das Spiel mit Sex und Gender ist eher Lauras Ding, auch wenn Alike sich neugierig darin ausprobiert. Ihre Mutter Audrey ahnt angesichts dieser verdächtigen Freundschaft bereits Schreckliches und fordert deshalb mit aller Strenge feminine Kleidung, um ihre Tochter wenigstens äußerlich nach ihren Wünschen zu formen. Dem Vater, ein Polizist, ist das Outfit beinah egal, bis seine Macho-Freunde blöde Witze über die sexuelle Orientierung seiner Ältesten reißen.

Und dann ist da noch die scheinbar langweilige Buna, die Tochter einer Kollegin, von der Alikes Mutter glaubt, sie sei so ein Mädchen, wie sie es gern zur Tochter hätte. Alike hat zunächst keinerlei Interesse an Buna, aber dann stellt sich heraus, dass sie gar nicht so doof ist, sondern ganz im Gegenteil sehr smart und außerdem sehr charmant. Schon bald wird Laura zugunsten von Buna verdrängt. Währenddessen überwerfen sich Alikes Eltern. Das Kartenhaus der heilen heteronormierten Familie, das ihre Mutter verzweifelt zu schützen versucht, fällt in sich zusammen. Privat scheint sich einfach nichts so zu entwickeln wie erträumt; auch ihr lesbisches Coming out hat Alike sich anders vorgestellt. Ihre Welt liegt irgendwo zwischen queeren Nachtclubs, Afro-Punk und selbst verfassten Gedichten, auf keinen Fall jedoch inmitten ihrer Familie. Sie lernt sich freizustrampeln und den Erwartungen anderer ihre eigenen Lebensentwürfe entgegenzusetzen.

Dass der Film nicht nur eine Coming-of-Age-Story, sondern auch ein politisches Statement ist, zeigt das Zitat aus Audre Lordes Autobiografie „Zami“, das Dee Rees ihrem präzise inszenierten Drama vorangestellt hat: „Wohin der Vogel ohne Füße auch flog, fand sie nur Bäume ohne Äste.“ Audre Lorde (1934-1992), eine afro-amerikanische lesbische Feministin, die sich selbst als „black lesbian feminist mother poet warrior“ bezeichnete, beschrieb in „Zami“ eine ebenfalls starke und dominante Mutter. Wie Audre Lorde findet Alike eine Ausdrucksmöglichkeit im Schreiben von Gedichten und kämpft schließlich für ihre Rechte. Ein anderes Zitat, „Your silence will not protect you“, hätte ebenfalls gut zu dieser Geschichte gepasst. Bestimmt hätte Audre Lorde der Film gefallen: Das bis in die kleinste Nebenrolle überzeugend gespielte Drama wurde komplett von und mit Schwarzen in Brooklyn gedreht. Selbst der hörenswerte Soundtrack ist Black Power pur, ein Mix aus Afropunk, Hip-Hop und Rock, geschrieben u. a. von Tamar-kali, Reema Major, Kandi Cole, Honeychild Coleman und Sparlha Swa.
(Kostproben des Soundtracks zum Reinhören gibt es hier.)

Der renommierte schwarze Regisseur Spike Lee („Do the Right Thing“), den die gelernte Betriebswirtin Rees an der Filmschule der New York University kennengelernt hatte, co-produzierte schließlich den abendfüllenden Spielfilm von Dee Rees, die den Stoff bereits 2007 erfolgreich als Kurzfilm vorgestellt hatte. Mit Unterstützung des Sundance Institute (einer Fördereinrichtung des Sundance Film Festivals) entstand ein äußerst sehenswertes dichtes Porträt übers Erwachsenwerden und Loslassen. Auf die zukünftigen Arbeiten von Dee Rees dürfen wir sicher gespannt sein!

Ingeborg Boxhammer

 

Pariah
USA 2010, R: Dee Rees, mit Adepero Oduye, Pernell Walker, Kim Wayans

Der Film kann relativ leicht über Amazon.uk geordert werden:
http://www.amazon.co.uk/Pariah-DVD-Region-Import-NTSC/dp/B005S9EIGU/ref=sr_1_2?ie=UTF8&qid=1360759454&sr=8-2

Related Posts

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Anzeige


Anzeige LITfest homochrom 06.–08.08.2021

visuelle

  • Fernsehinfos vom 6. bis 19. April 2024
  • Fernsehinfos vom 9. bis zum 22. März 2024
  • Radiotipp: Die Linguistin Luise F. Pusch im Gespräch
  • Buchtipp: Daniela Schenk: Mein Herz ist wie das Meer
  • Buchtipp: Elke Weigel – „Wind der Freiheit“
  • Buchtipp: „Riss in der Zeit“ von Ahima Beerlage
  • Filmtipp zum 75. Geburtstag von Ilse Kokula
  • Ilka Bessin: Abgeschminkt – Das Leben ist schön, von einfach war nie die Rede
  • Interview und Verlosung zu 25 Jahre „Krug & Schadenberg“
  • Der Schottische Bankier von Surabaya: Ein Ava-Lee-Roman
  • CD-Review: LAING sind zurück mit neuem Album
  • Interview: „Diversity muss von der Führung kommen“
  • 5 Serien für Fans starker TV-Charaktere …
  • „Danke Gott, dass ich homo bin!“ – Filmreview von „Silvana“
  • Buchrezi: „Lesbisch. Eine Liebe mit Geschichte“
  • Rückblick auf die NorthLichter
  • DVD-Rezi: „Call My Agent“ – Staffel 2
  • Berlin: Etwas andere Pride Parade am 23. Juni 2018 …
  • Buchrezi: Carolin Hagebölling „Ein anderer Morgen“
  • Ausstellungseröffnung „Lesbisches Sehen“ im Schwulen Museum Berlin
  • „The Einstein of Sex“ – Stück über Magnus Hirschfeld
  • „Here come the aliens“ – Das neue Album von Kim Wilde
  • Album-Review: Lisa Stansfield „Deeper“