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Shamim Sarif - Das Leben, von dem sie träumten

kaffeekränz_chen*

irgendwo in d_eutschland. Ein tisch und drum herum zwei stühle, auf denen zwei menschen sitzen und sich nach getaner arbeit* unterhalten. der kaffee steht bereit, um hin und wieder luft holen zu können.

t_ina: (blättert in einer Zeitschrift) kennst du schon die neuen an.schläge? die waren heute bei mir im Briefkasten. Hach* spannend …. die schreiben einen beitrag über den dokumentarfilm töchter des aufbruchs. den film wollten wir uns doch anschauen, oder? aber erst ist audre lorde dran, das hast du versprochen!
jo*: ach, lass mich heute bloß mit den an.schlägen und dem ganzen anderen scheiß* in ruhe. ich hätte lieber ein killerkommando*, aber so etwas kommt wohl nicht mit der post.
t_ina: (hört auf zu blättern, hebt den kopf und lacht) boah*, was is’n mit dir los? was bist du denn so genervt?
jo*: (atmet laut aus) ach weißt du … manchmal denke ich einfach, diese ganze auseinandersetzung mit queer-feminismus* und den damit verbundenen konsequenzen für das handeln* im alltag machen überhaupt keinen sinn, weil sich eh nix ändert. ich meine, wenn selbst sozialpadagog_innen immer noch die Nase rümpfen beim wort feminismus*… und dann überwinde ich meine müdigkeit und wage es heute begrifflichkeiten wie queer*feminismus einzubringen und seminarteilnehmer_innen denken sofort, dass es mir darum geht anekdoten über mein lesbischsein* zu erzählen … wird mir schlecht. dabei hatte ich mich so auf das Seminar gefreut. kannst du dir vorstellen über diversity* in der psychosozialen beratung zu diskutieren, ohne auch nur einmal queer*feminismus und rassismus zu erwähnen? ich nicht. von dem Geld, was mich die Weiterbildung kostet, hätten wir gut den Umzug auf eine einsame Insel finanzieren können.
t_ina: (schmunzelt ein wenig und streicht kurz die hand von jo*) komm schon jo* … gerade du bist spätestens nach einer woche auf der insel tierisch gelangweilt. Und nach der zweiten woche und unzähligen insektenstichen schwimmst du ganz freiwillig zurück aufs festland. aber ich verstehe immer noch bahnhof*. die ganzen abwehrmechanismen von menschen* sind jetzt auch nichts neues, oder? was ist denn heute auf dem seminar passiert?
jo*: (stellt die kaffeetasse mit nachdruck auf den tisch, nimmt einen tiefen atemzug und holt aus) du stehst heute ganz schön auf dem schlauch, ehrlich. Klar kenne ich den ganzen kackmist*. Nur so langsam habe ich es einfach satt. während der mittagspause erzählte e_ine aus der gruppe, sie habe das gefühl als heterosexuelle*, deutsche* mutt_er einer minderheit* im eigenen land anzugehören. danach platzte mir total der kragen. Nach der pause knallte ich der referent_in an den kopf, dass ich einen austausch* über heterosexismus* und rassismus* vermisse und vor allem hätte ich vom Seminarkonzept eine Auseinandersetzung* mit den eigenen verinnerlichten Labels*, Vorurteilen und privilegierten Positionen erwartet. Denn dies sei, fügte ich hinzu, aus meiner persönlichen* erfahrung gewinnbringend … nicht nur für beratungs*situationen.
t_ina: (prostet jo* anerkennend zu) krass und wie war die reaktion?
Jo*: rate mal … erst mal betroffenes schweigen. die heterosexuelle* mutter* nutzte den moment und verließ prompt den raum. schließlich versuchte die referent_in die situation zu retten, in dem sie vorschlug, ich als expert_in* auf dem gebiet* könne doch mein wissen der gruppe zur verfügung stellen.
t_ina: (schüttelt ungläubig den kopf) neee … oder? ernsthaft?
jo*: klar. ich schwöre!! (lacht laut) … vor allem gerade ich* als expert_in*. ich werde ja schon wütend, wenn eine person permanent wir*-botschaften sendet und meint, die erlaubnis zu haben für eine ganze soziale* gruppe sprechen zu können … (nippt kurz am kaffee) außerdem wieder typisch. Die Verantwortung wird mir als betroffene zugeschoben und damit ist es für die Seminarleitung erledigt. Ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, dass eigentlich dies zu den inhalten der fortbildung gehört und nicht die aufgabe einer einzelperson* ist. ich werde innerhalb von sekunden auf verschiedenen ebenen instrumenalisiert und funktionalisiert. am ende erwartet die seminarleitung* wahrscheinlich noch dankbarkeit, dass sie mir ermöglicht über minderheiten* zu sprechen. beim nächsten mal werde ich einfach am eingang meinen masterabschluss gegen ein t-shirt mit dem aufdruck hauptberuflich lesbische* migrant_in tauschen.
t_ina: (runzelt die stirn) ehrlich, manchmal hasse ich deinen* s_arkasmus. Na und? was machst du jetzt? Übermorgen geht das Seminar weiter …
jo*: (unterbricht hastig t_ina) sag mal, hörst du mir überhaupt zu? ich fordere das geld zurück, damit wir* beide auf einer einsamen insel sesshaft werden können …
t_ina: okay … also ich koche heute abend und nachdem wir* die doku über audre lorde gesehen haben, hecken wir plan b aus. nimm die kohle, schreib‘ eine beschwerde an die organisator_innen und bastle ein passendes seminarkonzept , hmm?
jo*: (versucht ein grinsen zu unterdrücken, schnappt sich die neuste ausgabe der an.schläge und liest)
*** ENDE ***

Anmerkungen:
Angelehnt an das Buch: „Queer_Feminismus Label & Lebensrealität“ verwende ich die kleinschreiben
Das sternchen und den unterstrich verwende ich für die sichtbarkeit vielfältiger identitätsentwürfe und für worte, die sehr unterschiedliche assoziationen und bilder bei leser_in hervorrufen können. wobei ich mich selbst hier noch im prozess befinde und keinen anspruch auf definitionsmacht erhebe.
Literaturempfehlungen*:
Leah Bretz & Nadine Lantsch: Queerfeminismus Label & Lebensrealität, unrast-verlag
Noah Sow: Deutschland schwarz WEISS – der alltägliche Rassismus, Goldmann Verlag

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2 thoughts on “kaffeekränz_chen*”

  1. phenomen_elle geht queer, toller Artikel einer Gastautor_in aus dem realen Leben, derer die an der alltäglichen Front, der alltäglichen Phobien stehen. Hoffentlich bringt phenomen_elle mehr davon.

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